Älterwerden im Quartier

Sorgende Hausgemeinschaft, Senioren-WG, Pflegewohnung auf Zeit, ambulant betreute Wohngemeinschaft oder Pflegeheim? Viele Begriffe schwirrten bei der Veranstaltung „Älterwerden im Quartier – nachbarschaftlich und selbstbestimmt“ durch die Luft. Moderiert von wagnis-Vorständin Elisabeth Braun, diskutierten Brigitte Herkert (Koordinationsstelle Wohnen im Alter), Florian Walter (Hilfe im Alter gGmbH der Inneren Mission München), Lena Heiß (Mitbauzentrale) und Günter Hörlein (Älter werden am Ackermannbogen, ÄlwA), Foto oben, v.r., über verschiedene Wohnmodelle im Alter. Eine Erkenntnis am Ende: es gibt viele differenzierte Modelle, über die man sich rechtzeitig informieren sollte, um bei einem akuten Bedarf auch eine gute Lösung finden zu können.
Rund 70 Teilnehmer*innen waren Anfang April ins Lihotzky gekommen, um die Podiumsdiskussion zu verfolgen. wagnis-Vorständin Rut Gollan war begeistert über das große Interesse und wies in ihrer Begrüßung auf den generationenübergreifenden Aspekt der wagnis-Projekte hin. Hier ziehen nicht nur junge Familien ein, die sich über eine größere Wohnung freuen, sondern viele ältere Menschen erleben den umgekehrten Prozess: sie nehmen Abschied von einer großen Familienwohnung oder einem Haus und müssen sich bewusst verkleinern. „Gerade bei wagnis hat das Miteinander-Anpacken und Gestalten von neuen Lebensabschnitten viele Chancen“, sagte Rut Gollan.
Kusinenkreis in wagnis1
Was alles möglich ist, zeigte Günter Hörlein am Beispiel der Initiative „Älter werden am Ackermannbogen“ (ÄlwA) auf. 2007 hatten einige Bewohner*innen von wagnis1 sich zunächst zum Kusinenkreis getroffen, bei dem es vor allem um Gespräche und Informationsaustausch ging. Der Name kam daher, dass sie sich bei Krankenhausbesuchen als Kusinen bezeichneten, um als „Verwandte“ Auskunft über den Gesundheitszustand einer Nachbarin zu bekommen. Aus dem informellen Kusinenkreis erwuchs 2010 ÄlwA unter dem Dach des Nachbarschaftsvereins Ackermannbogen e.V.
Mittlerweile hat sich eine Vielfalt von Aktivitäten entwickelt: Untergruppen decken differenzierte Bedürfnisse von Menschen in unterschiedlichen Altersstufen ab. Während sich die Gruppe der über Sechzigjährigen im Nachbar-Netzwerk ÄlwA mit gemeinsamen Aktionen, möglichen ehrenamtlichen Aktivitäten im Ruhestand und der Verstärkung von nachbarschaftlichen Kontakten beschäftigt, tauschen sich die Nachbar*innen über 70 in der Gruppe ÄlwA-Klassik aus und kümmern sich um die gegenseitige Unterstützung. Alle zwei Wochen trifft sich die Gruppe AngeNehm mit Mitgliedern über 80, bei denen das persönliche Gespräch im Vordergrund steht. Daneben gibt es eine Theatergruppe, eine Kochgruppe fürs Wohncafé und eine Kulturcafé-Gruppe.
Eine wichtige Säule ist das Projekt „Wohnen bleiben im Viertel“, das ermöglichen soll, auch bei Pflegebedürftigkeit möglichst lang in der eigenen Wohnung bleiben zu können. Dafür wurde ein Pflegedienst als Kooperationspartner gefunden, der nun seinen Stützpunkt in wagnis4 am Ackermannbogen hat. Außerdem stellt die städtische Wohnungsgesellschaft Münchner Wohnen mehrere Projektwohnungen zur Verfügung, und eine ehrenamtliche Gruppe lädt regelmäßig zum Mittagstisch ein. Günter Hörlein, Mitbegründer der Genossenschaft wagnis und viele Jahre lang im Aufsichtsrat tätig, kann aus einem großen Erfahrungsschatz zum Thema ehrenamtliches Engagement schöpfen. Seine Beobachtung: „Viele Leute sind bereit, Hilfe zu geben, aber oft sind sie nicht bereit, Hilfe anzunehmen.“ Um solche Schwellen abzubauen, sei das persönliche Kennenlernen ein wichtiges Element. Kontakte können bei Besuchen, bei Gesprächen, beim Stammtisch und beim Mittagstisch aufgebaut werden. Inhaltliches mit Essen verbinden funktioniere gut, empfahl Günter Hörlein den Zuhörer*innen und zitierte aus einem FAZ-Artikel, dass intensive soziale Kontakte Booster für ein langes Leben seien.
Oben auf der Wunschliste: so lange wie möglich in der eigenen Wohnung bleiben
Die Koordinationsstelle für Wohnen im Alter leistet im Auftrag des bayerischen Sozialministeriums für ganz Bayern Beratungsarbeit und unterstützt beim Aufbau und in der Begleitung von Projekten. Hier arbeitet Brigitte Herkert, die in ihrem Vortrag einen Überblick über Wohnformen für Menschen im Alter gab. Was die Wohnungswünsche angeht, so steht bei den meisten älteren Menschen ganz oben auf der Liste, so lange wie möglich in der eigenen Wohnung zu bleiben. Danach folgt eine Wohnung mit gesicherter Betreuung bzw. eine Wohnung, „in der man besser zurechtkommt“. Die Nähe zu den Kindern oder eine Gemeinschaft mit Jung und Alt sind weitere Faktoren. Eine Gemeinschaft „nur“ mit Senioren wird wenig nachgefragt. Ganz unten auf der Skala ist das Heim: „Keiner will ins Pflegeheim“, so Herkert.
Quartierskonzepte, die Voraussetzungen schaffen, dass Menschen in ihrem vertrauten Viertel bleiben können, liegen im Trend. „Das funktioniert gut in der Stadt, gestaltet sich aber auf dem Land schwierig“, meinte die Expertin. In ihrem Beitrag nahm sie verschiedene Wohnangebote genauer unter die Lupe.
- Beim Betreuten Wohnen, bei dem Menschen in der eigenen Wohnung leben und Unterstützungsangebote in Anspruch nehmen können, riet sie, sich die Details gut anzuschauen, da oft nur die Vermittlung von Angeboten enthalten sei.
- Die Tagespflege ist ein Angebot für Menschen, die noch zu Hause wohnen bleiben wollen, aber tagsüber Unterstützung brauchen. „Sie ist eine wichtige Entlastung für pflegende Angehörige“, sagte Herkert.
- Die Pflegewohnung auf Zeit ist für Menschen, die nach einem Krankenhausaufenthalt noch mehr Hilfe brauchen, aber wieder in ihre eigene Wohnung zurückkehren wollen.
- Eine ambulant betreute Wohngemeinschaft besteht aus bis zu 12 Personen, die pflegebedürftig sind. Die Pflege ist gemeinschaftlich organisiert, auch eine Rundum-Versorgung ist möglich. Dadurch bleibt der Umzug ins Heim erspart. Mittlerweile gibt es rund 500 ambulant betreute WGs in Bayern in normalen Mietwohnungen mit einem Pflegedienst als Dienstleister. „Allerdings ist diese Wohnform kein finanzielles Schnäppchen“, warnte Herkert.
Gerade für Genossenschaften sieht Herkert in der ambulant betreuten WG ein interessantes Potenzial und empfahl, hier neue Wege zu gehen und über diese Wohnform nachzudenken. Von reinen Senioren-WGs hält Herkert eher wenig: „Es ist oft schwierig, Leute zu finden, die zusammenleben wollen.“
Lena Heiß von der Mitbauzentrale unterstützt die Münchner Wohnen beim Aufbau von sorgenden Hausgemeinschaften. Dafür stellt das kommunale Unternehmen in einem neuen Projekt schon im Vorfeld Mietwohnungen für Menschen über 55 zur Verfügung. Vor dem Einzug lernen sich die Haushalte kennen und treffen sich regelmäßig. Ziel ist, sich später gegenseitig zu unterstützen und gemeinsam etwas zu unternehmen.
Zukunftsmodell "Wohnen im Viertel" weiter stärken
Viel Erfahrung mit Heimen hat Florian Walter, stellvertretender Geschäftsführer der Hilfe im Alter gGmbH bei der Inneren Mission, gesammelt, er hat selbst jahrelang ein Pflegeheim geleitet. Er plädiert dafür, Sektorengrenzen aufzuheben und vielfältige Angebote unter einem Dach zu bündeln, so dass sich verschiedene Zielgruppen hier wohlfühlen und man auf unterschiedliche Bedürfnisse eingehen kann. Im Format „Wohnen im Viertel“ mit den Säulen Pflegewohnungen, Pflegedienst vor Ort und Wohncafé, wie es bei ÄlwA umgesetzt wird, sieht er ein Zukunftsmodell, das man weiter stärken solle. Dank der Kombination von ehrenamtlichem Engagement und professionellen Strukturen können ältere Menschen so lang wie möglich in ihrer vertrauten Umgebung bleiben. Leider stehe die Finanzierung bisher auf tönernen Füßen, meinte Walter.
Doch selbst bei viel ehrenamtlichem Engagement und nachbarschaftlicher Unterstützung wird es Situationen geben, in denen Menschen so hilfsbedürftig sind, dass sie nicht mehr allein in ihrer Wohnung bleiben können oder sich auch Nachbar*innen überfordert sehen. Wie kann man diese Grenzen frühzeitig erkennen, fragte Moderatorin Elisabeth Braun. Florian Walter riet, genau hinzuschauen und bei demenziellen und körperlichen Veränderungen wachsam zu sein. In dieser Situation solle man sich frühzeitig über die Zukunft Gedanken machen: „Wenn es irgendwann nicht mehr geht, muss ich sonst nehmen, was kommt.“
Bei bedarfsgerechten Wohnformen gebe es eine große Bandbreite, abgestimmt auf differenzierte Bedürfnisse, stellte Rut Gollan in ihrem Fazit am Ende der Veranstaltung fest. Das bringt auch für die Genossenschaft viel Stoff zum Nachdenken, hier müsse man über die Grenzen hinausdenken und neue Wege gehen: „Wir nehmen Impulse mit für neue und für bestehende Projekte.“
Foto unten: Die Podiumsdiskussion stieß auf großes Interesse, der Saal war voll besetzt.